Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge: Zwischen Autonomiestreben und Hilfebedarf
Eine besondere Herausforderung für den verantwortungsvollen Umgang mit Macht
Oftmals geraten Pädagogen und junge Flüchtlinge in scheinbar nicht auflösbare Konfliktsituationen. Die Selbstständigkeitsbemühungen der jungen Flüchtlinge reiben sich mit den Unterstützungsbemühungen der Pädagogen. Wie kann diese Gratwanderung gelingen?
Viele junge Flüchtlinge waren in ihrem Herkunftsland in hohem Maße eigenständig. Bereits in jugendlichem Alter hatten sie teilweise nicht nur für sich selbst, sondern ebenso für Geschwister oder die gesamte Familie zu sorgen. Auf der Flucht noch weitgehend auf sich selbst gestellt, finden sie sich in der deutschen Jugendhilfe in einer völlig anderen Rolle wieder: Gemeinsam mit anderen Jugendlichen leben sie in einer Gruppe oder Wohngemeinschaft, müssen sich an Regeln und Strukturen halten und werden von Pädagogen betreut.
Eine komplizierte Situation für junge Flüchtlingen und Pädagogen gleichermaßen. Diese Situation betrifft jedoch nicht nur die Einrichtungen und Dienste der stationären oder ambulanten Jugendhilfe, sondern jegliche Form pädagogischer Betreuung junger Flüchtlinge. Aber auch die Vormundschaften und andere Formen behördlichen Handels sind an dieser Stelle in besonderer Weise herausgefordert.
Ist Handeln zum Wohle der Betroffenen ohne oder gegen deren Willen gerechtfertigt? Die Paternalismusfrage in der Arbeit mit jungen Flüchtlingen
Das spezifische Autonomiestreben junger Flüchtlinge wirft eine Frage von grundsätzlicher Relevanz auf: Inwieweit ist ein Handeln zum Wohle der jungen Flüchtlinge, ohne oder gegen deren Willen zu rechtfertigen? Oder, anders ausgedrückt: Was legitimiert die jeweiligen Pädagogen, Vormünder, fallführenden Mitarbeitenden in Jugendämtern usw. dort einzugreifen, wo Handlungen und Willensentscheidungen unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge nicht vernünftig begründet erscheinen? Es ist deutlich, dass diese Frage nicht prinzipiell, d. h. losgelöst von der konkreten Person und Situation, zu beantworten ist.
Ungeachtet der jeweiligen individuellen Situation können jedoch einige Entscheidungs- bzw. Handlungsgrundsätze aufgestellt werden:
Eingriffe zum Wohle der jungen Flüchtlinge
- müssen durch einen Mangel an der erforderlichen Einsichtsfähigkeit oder durch einen Mangel an Willen gerechtfertigt sein. Im Falle junger Flüchtlinge kann ein solcher Mangel der Einsichtsfähigkeit oder des Willens z. B. auf einem Informations- oder Erfahrungsdefizit beruhen.
- müssen gegründet sein auf der Kenntnis der längerfristigen Bedürfnisse der Betroffenen.
- müssen geleitet sein von dem Ziel, ein größtmögliches Maß an Autonomie für den Betroffenen zu erhalten und Gerechtigkeitsaspekte zu berücksichtigen.
- müssen unter allen Umständen die Selbstachtung und Würde der jungen Flüchtlinge berücksichtigen.
Geleitet von diesen Grundsätzen gilt es individuell und situationsbezogen Entscheidungen und Handlungen sehr sorgsam abzuwägen. Denn es geht um nicht weniger als um einen verantwortungsvollen Umgang mit erzieherischer und/oder behördlicher Machtausübung gegenüber besonders verletzbaren jungen Menschen.
Klaus Graf
Dr. theol., Dipl. Sozialarbeiter
Venner Straße 20
53177 Bonn
Zum Weiterlesen:
Graf, Klaus (2014): Ethik der Kinder- und Jugendhilfe. Grundlagen und Konkretionen. Kohlhammer, Stuttgart.
Landschaftsverband Rheinland (2016): Förderung von Kindern und Jugendlichen in Einrichtungen und der Schutz ihrer Persönlichkeitsrechte, Köln.