Prof. Dr. Hartmut Kreß: Verantwortung für minderjährige Flüchtlinge
1. Das aktuelle Problem: Der Familiennachzug
In der Bundesrepublik Deutschland treffen seit der zweiten Hälfte des Jahres 2015 in zunehmender Zahl minderjährige Flüchtlinge ein. Sozialethisch und grundrechtlich ist es geboten, sie humanitär zu begleiten und ihnen persönlich sowie sozial zur Seite zu stehen. Initiativen, die in diese Richtung zielen, verdienen jede Unterstützung.
Leider besteht großer Zweifel, ob Staat und Politik insgesamt ihrer Aufgabe gerecht werden. Der Zweifel verstärkt sich aktuell im Zusammenhang mit dem sog. Asylpaket II, das der Deutsche Bundestag am 25. Februar 2016 verabschiedet hat. Das Gesetz sieht unter anderem vor, dass Menschen, die nur einen subsidiären Schutz genießen – zu ihnen gehören Flüchtlinge aus Kriegs- und Bürgerkriegsgebieten –, ihre Familienangehörigen zwei Jahre lang nicht nachholen dürfen. Die Regelung belastet vor allem Kinder. Nach internen Konflikten in den Regierungsfraktionen wurde lediglich zugestanden, dass es in Härtefällen Ausnahmen geben darf.
Juristisch wird kritisch zu prüfen sein, ob die Einschränkungen zum Familiennachzug mit den Menschenrechten, mit den Grundrechten von Kindern und mit dem Schutz der Familie in Grundgesetz Artikel 6 überhaupt vereinbar sind. Auf jeden Fall gerät in bedrückender Weise in Erinnerung, dass es der Bundesrepublik Deutschland schon seit Jahrzehnten sehr schwer fällt, die Grundrechte von Kindern im Allgemeinen und von Flüchtlingskindern im Besonderen so zu bejahen, wie es aus Gründen der Humanität erforderlich ist.
2. Humanität als Basis für Staat und Gesellschaft
Der moderne Verfassungsstaat und eine aufgeklärte Gesellschaft werden sich selbst untreu, wenn sie die Gebote der Humanität verletzen. Denn: „Das Fundament des Rechts ist die Humanität.“ Ein Prüfstein der Humanität besteht darin, wie sich eine Gesellschaft zu vulnerablen Gruppen, d. h. zu verletzlichen und schwächeren Menschen verhält. Hier ist sofort an Kinder zu denken.
Sie sind schutzwürdig und schutzbedürftig, weil sie ihre Interessen noch nicht selbständig zur Sprache bringen und durchsetzen können. Dies gilt vor allem für kleinere Kinder, aber auch für Jugendliche, denen je nach Alter und Reife ansteigende Selbstbestimmungsrechte und eine zunehmende eigene Verantwortlichkeit zukommt. Es ist international üblich, als Altersgrenze die Vollendung des 18. Lebensjahrs anzusehen. Danach ist der Heranwachsende nicht mehr minderjährig (Kind oder Jugendlicher), sondern gilt als volljährig bzw. als Erwachsener.
3. Eigene Rechte von Kindern – Leitidee der UN-Kinderrechtskonvention
Die Altersgrenze von 18 Jahren wird auch in der Konvention über die Rechte des Kindes erwähnt, die von der Vollversammlung der Vereinten Nationen im Jahr 1989 verabschiedet worden ist. Diese Konvention bildet kulturgeschichtlich, rechtlich und ethisch einen epochalen Durchbruch. Sie brach mit den Anschauungen, die jahrhundertelang in unserer Kultur herrschten. Herkömmlich galten Kinder als das Eigentum der Eltern und als unfertige, d. h. als noch nicht vollwertige Menschen. Im Sinn der feudalen ständischen Gesellschaft des Mittelalters sprach z. B. auch Martin Luther von „Kindern und Gesinde“, die der „Gewalt“ des Hausherrn, also seinem Verfügungsrecht und seiner Verfügungsmacht, unterstellt waren.
Die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen hat derartige Traditionen überwunden. Sie nennt Abwehr-, Schutz- und Freiheitsrechte, die jedem Kind persönlich zustehen. Zu ihnen gehören das Recht des Kindes auf Gesundheitsschutz und auf Bildung, aber z. B. auch seine Gewissens- und Religionsfreiheit. Darüber hinaus befasst sich die Kinderrechtskonvention in ihrem Artikel 22 mit der Situation eines Kindes, „das die Rechtsstellung eines Flüchtlings begehrt oder … als Flüchtling angesehen wird“. Ihm sollen Schutz gewährt und humanitäre Hilfe geleistet werden – und zwar „unabhängig davon, ob es sich in Begleitung seiner Eltern oder einer anderen Person befindet oder nicht“.
Gemäß Artikel 22 stehen die Staaten, die der Kinderrechtskonvention beigetreten sind, in der Pflicht, „die Eltern oder andere Familienangehörige eines Flüchtlingskinds ausfindig zu machen mit dem Ziel, die für eine Familienzusammenführung notwendigen Informationen zu erlangen“.
4. Irritierende Distanz der Bundesrepublik Deutschland gegenüber den Kinderrechten
Die Bundesrepublik Deutschland hat die UN-Kinderrechtskonvention im Jahr 1992 ratifiziert. Jedoch erhob sie Vorbehalte, die – ausgerechnet – Kinder als Flüchtlinge betrafen. Die Vorbehalte wurden formal erst im Jahr 2010 zurückgenommen.
Doch die Rücknahme bedeutet nicht, dass sich Regierung und Parlament das Anliegen der Kinderrechte umfassend zu eigen gemacht hätten. Zum Beispiel ist es überfällig, Kinderrechte ausdrücklich in das Grundgesetz aufzunehmen und ihnen hierdurch Verfassungsrang zu verleihen. Sämtliche Versuche, den Deutschen Bundestag zu einem solchen Schritt zu bewegen, sind gescheitert.
Aktuell rückt eine konkrete Herausforderung in den Vordergrund, und zwar der Umgang mit Kindern, die geflohen sind und deren persönliche Situation entsprechend verzweifelt ist.
5. Kinder als Flüchtlinge. Staat und Politik haben wichtige Bewährungsproben jahrelang nicht bestanden
Es ist äußerst problematisch, wie sich die Bundesrepublik Deutschland vor Asylsuchenden und Flüchtlingen generell abgeschottet hat. Seit den 1990er-Jahren wurde eine Rechtslage geschaffen, aufgrund derer sie von der Bundesrepublik Deutschland weitgehend ferngehalten wurden. Die logistische Herausforderung und die Belastung, den Andrang von Migranten und fliehenden Menschen zu bewältigen, sind auf die Grenzstaaten der EU abgewälzt worden, besonders auf Italien und Griechenland.
Was heimatlos gewordene Kinder anbelangt, haben sich in der Bundesrepublik Deutschland über Jahrzehnte hinweg zusätzlich schwere Probleme angestaut:
– Vernachlässigung des Kindeswohls. Die UN-Kinderrechtskonvention sieht vor, dass das Wohl eines Kindes grundsätzlich vorrangig zu beachten ist. Hierzu steht seit Langem in Gegensatz, wie Kinder eingestuft werden, die als Flüchtlinge in der Bundesrepublik eintreffen. So musste sich die Bundesregierung im Jahr 2002 ermahnen lassen, die „Drittstaatenregelung“ sowie das Flughafenverfahren grundsätzlich nicht auf Minderjährige anzuwenden – ohne dass eindeutig Abhilfe geschaffen wurde. Auch im Rechtsvergleich schneidet die Bundesrepublik Deutschland keineswegs stets vorbildlich ab. So war 2001 zum Nachzug von Kindern festzustellen: „Im Vergleich der EU-Mitgliedstaaten, die das Nachzugsalter durchgehend auf dem Niveau des Volljährigkeitsalters ausgestaltet haben, bestehen derzeit nur in Deutschland und Österreich niedrigere Altersgrenzen“.
– Hürden bei der Schulbildung. Immer wieder wurde darauf hingewiesen, dass Eltern ohne Aufenthaltspapiere es nicht riskieren konnten, ihre Kinder in die Schule gehen zu lassen. Denn sie liefen Gefahr, dass die Schulleitung dies der Ausländerbehörde meldet und eine Abschiebung erfolgt. Aktuell verlagert sich der Brennpunkt der Probleme. So wird aus Baden-Württemberg berichtet, dass jetzt eingetroffene Flüchtlingskinder im schulpflichtigen Alter faktisch „wochen- und monatelang keine Schule besuchen“ – zusätzlich dazu, dass ihnen auch außerhalb der Schule Anregungen zur Beschäftigung und zum Spielen fehlen.
– Mängel in der Gesundheitsversorgung. Ein weiterer bedrückender Sachverhalt ist die gesundheitliche Versorgung von Flüchtlingskindern. Auf die Defizite ist jahrelang aufmerksam gemacht worden. Jüngst hat der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte die Bundesregierung aufgefordert, in Zukunft „keinerlei Einschränkung in der medizinischen Versorgung von minderjährigen Flüchtlingen“ mehr zuzulassen. Ca. 25% der Flüchtlinge und Asylsuchenden seien zurzeit Minderjährige. Der UN-Kinderrechtskonvention zufolge gilt das Recht auf gesundheitliche Versorgung und auf Gesundheitsschutz für alle Kinder; Flüchtlingskinder dürfen nicht ausgenommen werden. Im Gegenteil: Aufgrund ihrer Erlebnisse und ihrer bedrängten Lebenssituation sind sie auf gesundheitliche einschließlich psychologischer Unterstützung in besonderem Maß angewiesen.
Insgesamt ist es also keineswegs neu, dass in der Bundesrepublik Deutschland der Wortlaut und der Wortsinn der UN-Kinderrechtskonvention nicht hinreichend beachtet werden. Das „Asylpaket II“ mit seinem weitgehenden Nein zum Familiennachzug für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge fügt sich in dieses Bild ein. Umso mehr sind Korrekturen geboten.
6. Orientierung an den Grundrechten von Kindern – das Gebot der Stunde
Grundrechte sind unteilbar. Besonders dringlich ist es, gefährdete und vulnerable Menschen in ihren Grundrechten zu schützen. Staat und Politik verlieren ihre Glaubwürdigkeit, wenn sie die Rechte von Flüchtlingskindern beiseiteschieben oder vernachlässigen.
Weil es um Schutzrechte von Menschen in akuter schwerer Bedrängnis geht, darf kein ökonomisches Kosten- und kein bloßes Nutzenkalkül den Ausschlag geben. Daher sollte auch nicht das (Schein-)Argument hervorgehoben werden, einreisende Kinder seien für den hiesigen Arbeitsmarkt nützlich; durch sie lasse sich die demographische Krise der alternden Gesellschaft abfedern. Solche Probleme hätten früher mit Hilfe eines Einwanderungsgesetzes gelöst werden müssen.
Aus humanitären Gründen kommt es jetzt vielmehr auf die Perspektive der Betroffenen selbst an, die in Not geraten sind. Für Kinder sind Hilfestellungen dringlich, die ihnen neue Zukunftsaussichten eröffnen – sei es für eine spätere Rückkehr in ihr Herkunftsland oder für ihr Bleiben in Deutschland. Ethisch ist an das Denkmodell der Befähigungsgerechtigkeit zu erinnern. Es gilt, minderjährige Flüchtlinge möglichst weitgehend in die Lage zu versetzen, künftig in eigener Verantwortung leben und handeln zu können. Daher ist Unterstützung in verschiedener Hinsicht unerlässlich: gesundheitliche Versorgung und psychosoziale Begleitung; Bildungsangebote, um mit kulturellen und religiösen Differenzen umgehen zu können; Sprachunterricht; alltagsbezogene Informationen; Eröffnung von Möglichkeiten der Berufsausbildung.
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